Titelbild: Screenshot der Google-Suche am 21.12. zu #wunschvorstellung. Natürlich muss ein Riesentheater auch bei TikTok mitmachen :)
Ein Stück ohne Akte, Pausen und Aufzüge im Advent der Coronalen Sonntage.
Prolog
Ich weiß, dieses Drecksvirus trifft alle und alles, die Welt steht still, nichts geht, alles leidet, aber dies soll ein Text zum Theater sein. Das fehlt mir sehr, doch, sonst ein Trost in diesem, unseren Jammertal. Mir ist die Reihenfolge der Relevanzen dabei egal. Doch, natürlich, essen und trinken, die Haare schneide ich mir selbst und bleibe zu Haus.
Nun also, auch den Theatern wurden die Bühnen geschlossen. Bumm. Was jetzt? Hechelnd näherte man sich dem Netz. Wie Schulen, Unis und Kinos. Waren doch bisher die Social-Media-Accounts nur der PR gewidmet, dem Ticketverkauf untergeordnet eher lästig, verhelfen sie doch gar nicht zu einer Einladung zum Theatertreffen oder so. Natürlich gab es sofort auch Gestreame, aber abgefilmtes Theater ist wahrhaftig nicht neu. Als es nur ein Programm im TV-Land gab, sah ich bei den Großeltern schon das Ohnsorgtheater.
Wer dieses Blog kennt weiß, dass “Theater im Netz” ein Anliegen ist. Siehe hier.
Zum Beispiel hier ein Tweetup im Opernhaus des Nationaltheaters Mannheim.
Aber ich wartete gespannt. Auf ein Format, das nur im Netz funktionierte und auch jenseits der Verbote funktionieren könnte.
Eine Twitter-Theater-Woche #ttw13 gab es ja schon 2013, von Twitter angeregt, aber das war nicht so toll. Ich bloggte das.
Ich erwartete es schon früher aus der Richtung der Kulturfritzen. Guckt. Ein Mitmachprojekt von Marc Lippuner.
#ichbinnin
Ich bloggte:
Die Kulturfritzen sammelten das treiben schon im März im Netz. Kultur in Quarantäne
Tatsächlich dann im ersten Lockdown: Anne Aschbrenner, die Wiener Kulturfritzin, war inzwischen die Onlinerin des Burgtheaters. Also das Burgtheater machte den Anfang. Das größte deutschsprachige Sprechtheater und wohl auch das älteste.
Was war der radikale Gedanke? Ganz einfach. Unsere Bühnen sind zu? Dann machen wir eine Bühne im Netz auf. Kostengünstig auf Twitter, zusammengehalten über einen #hashtag und wir streamen nicht, sondern laden Besucher dazu in diesen Nichtbühnenraum ein, wie sonst auch. Die Twitteracountler*innen waren gehalten das Stück selbst zu gestalten, zu schreiben. Bottom up, partipizierend, auf gleicher Ebene. Es funktionierte. Ausgezeichnet! Der Marke “Burgtheater” konnten viele nicht wiederstehen, wie ich auch.
Im Mai der Erstling “Vorstellungänderung”
Das ist von Anne längst in den geheiligten Schriften des Böllinstituts verewigt worden im “Netztheater” (PDF, freier Download)
Die Nachtkritik berichtete, ja ich komm auch drin vor. “Baby-Elephanten im Hochmoor”
Es war sehr erheiternd mitzumischen. Wir brachten zwar kein Stück zusammen, wie auch, so viele Teilnehmer, die sehr aneinander interessiert waren, man brauchte ja keinen Abstand und wenn es doch auf die Bühne ging, waren es zich Varianten, die man verpasst hatte, so schnell kamen die Tweets. Es wurde klar: Das Tool Twitter war ideal, nichts lief linear, das war geordnetes Chaos, Hauptstränge, Nebenstränge, beste Unterhaltung.
Dann im zweiten Lockdown. An allen 4 Adventsonntagen, sorry, in Österreich Adventsonntagen “#wunschvorstellung”
Anne twitterte im Vorfeld des 4. Durchgang
Heute findet die vierte und letzte #wunschvorstellung statt. Thread über ein Experiment.#SocialMedia #TheaterImNetz #AudienceEngagement #UGC #UserGeneratedContent #meta
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
#wunschvorstellung ist eine Theatervorstellung, eine Vorstellung von Theater. Menschen twittern von einer Vorstellung, die nur in ihrer Vorstellung stattfindet, ja gar nicht anders stattfinden darf, weil die Theater geschlossen haben müssen. #KulturLockdown
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Man darf zwar nicht ins Theater gehen. Man darf allerdings auch gemeinsam nicht hingehen. Das gemeinsame Erleben von Theater, überhaupt von Kultur, das kann kein Streaming leisten, auch nicht im Chat, weil der Chat endet, aber Twitter bleibt auch nach Vorstellungsende da.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Der Dramaturg Sebastian Huber u.ich haben das Format der Twittervorstellung im 1.Lockdown erfunden: Während man unter digitaler Transformation v.a. Einsatz von möglichst viel Technologie versteht, haben wir versucht, möglichst viel wegzulassen. – Was macht Theater eigentlich aus?
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Ein Theaterabend, der nur in der Vorstellung des Publikums existiert, geht das überhaupt?, hat Sebastian mich gefragt. Hold my Beer, habe ich geantwortet.
Dass Twitter dafür die beste Plattform ist, war mir klar. Der große Erfolg unseres Experiments hat auch mich überrascht.— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Beim ersten Twittertheaterabend, #vorstellungsänderung, sind über 3.000 Tweets (an1Abend!) entstanden. Das Burgtheater hat über 300 neue Follower bekommen.(an1Abend!). Theatererleben fehlt den Menschen, hat man gemerkt.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Als der zweite #KulturLockdown sich ankündigte, der zudem noch in die Weihnachtszeit fiel, war uns klar, dass wir das Format wiederholen möchten: als #wunschvorstellung jeweils am Adventsonntagabend, ab 18 Uhr. Die letzte Folge ist heute.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Die #wunschvorstellung bedeutet gemeinsam kreativ sein, Gemeinsamkeit erleben. Sie verdrängt für einen Abend das Trostlose des Corona-Alltags aus den Timelines. Dreimal in Folge waren wir i.d.Trending Topics. So entsteht Bedeutung in der Kultur d.Digitalität, heißts bei Stalder.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Für mich ist das schon sehr viel. Darüberhinaus haben wir uns auch auf einer wissenschaftlichen Ebene mit dem Format beschäftigt. Gemeinsam mit @culturelab haben wir die Mechanismen von Co-Creation-Prozesse analysiert. Der Artikel erscheint demnächst.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Nicht zuletzt habe ich in den letzten Jahren erfolglos nach Formaten gesucht, die #AudienceEngagement im Social Web betreiben, das über einen Call for Irgendwas hinausgeht. Ein Bedürfnis wecken, ein richtiges Bedürfnis, ist wohl das Geheimnis. Theatererleben ist so ein Bedürfnis.
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Ich bin Sebastian, dem Burgtheater-Ensemble u.a.Kolleg*innen sehr dankbar, dass sie sich auf solche Experimente einlassen. Und der Direktion, die mich machen lässt. Obwohl sie nicht mal Twitter kannten. Digitale Transformationsprozesse brauchen Vertrauen. (+wen d.sich auskennt)
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Wir experimentieren freilich weiter. Aus den Tweets der #wunschvorstellung haben wir dadaistische Episodenguides kuratiert, die Martin Schwab, Stefanie Dvorak und Dietmar König lesen: https://t.co/EPwVo8xxUX
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Wer mehr über das Format wissen will: Für den Band #Netztheater von @boell_stiftung und @nachtkritik haben wir den Aufmachertext geschrieben. Nebst anderen sehr lesenswerten Texten.
Gibt’s hier: https://t.co/bsCy1PAKjn#wunschvorstellung #vorstellungsänderung #TheaterImNetz
— Anne Aschenbrenner (@AnneAschenbrenn) December 20, 2020
Irgendwann guckte ich auf dem Blog zur Produktion nochmal nach und erschrak.
Es lief wie schon im Mai. Nur kam dieses mal mehr auf die Bühne, getrieben von den Ensemble-Mitgliedern und Mitarbeiten. 4 mal die selbe Vorgabe und wie immer auch Seitenstränge.
Ich hatte Angst, dass es kein Ende gäbe, aber das Theater selbst hob sich einfach ab.
Valeria winkt dem davonschwebenden Burgtheater hinterher. Mio gluckst. Das Publikum singt. Valeria wünscht allen frohe Festtage und ein ganz neues Jahr…
…
…
Was für eine #wunschvorstellung…
…#vorhang pic.twitter.com/AvCu8MD8IL— Burgtheater (@burgtheater) December 20, 2020
Mich wunderte auch, wie die Stars des Burgtheaters, die man auch aus Film und Serie kennt munter mitmachten, ohne Allüren. Anrührend nach Ende: Mavie Hörbiger zitiert ihren Großvater mit einem Lied über das Theater
https://t.co/t1iS6GYI3c finale!! @HeupermanM
— Mavie Hörbiger (@hoerbigerm) December 20, 2020
Übrigens war #wunschvorstellung immer auch in den Twittercharts in Österreich und Deutschland.
Auf Youtube gab es dann immer auch Zusammenfassungen, gelesen von Ensemble-Mitgliedern, auch erstaunlich, finde ich großartig. Ohne Zusammenahng kommt das aber sehr Dadaistisch an, oder? Es ist immer wieder schön, wenn Profis lesen. Auch die eigenen Texte.
1 Martin Schwab
Verbindung zu Youtube erst nach dem Klick.
2 Stefanie Dvorak
Verbindung zu Youtube erst nach dem Klick.
3 Dietmar König
Verbindung zu Youtube erst nach dem Klick.
4 Dorothee Hartinger
Verbindung zu Youtube erst nach dem Klick.
Ich halte das alles für ein hervorragendes Experiment, fühlte mich wohl dabei und harre der Dinge, die da kommen sollen. Ich empfehle allen Theatern ihre Online-Strategie zu überdenken, vielleicht eine eigene Sparte daraus zu machen, Theater online neu zu denken nicht nur als PR sondern als Produktionsmedium. Das kann man auch vernetzt machen! Wenn die Orte im Netz liegen ist es egal, wer was macht. Ja und über Bezahlung müsste es laufen. Doch. Netzabo oder so.
Ach braucht ihr Vorschläge? Machte ich schon 2014.
Update: Anne hat bei den Kulturfritzen gepostet.
#wunschvorstellung, retrospektiv