Nicht müde werden

“sondern dem Wunder…die Hand hinhalten“ las sie.
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Hilde Domin.
In Darmstadt heute Abend in der Stadtkirche. 93 ist sie alt und beklagt sich, dass sie seit Neustem eine Lesebrille tragen muss. Die Domin ist ein Gesamtkunstwerk inzwischen. Da die Musik krank war bestritt sie das Programm alleine. Eine Stunde Erinnerungen und Lesung. Eine der Großen der deutschen Literatur ohne jede Allüre. Filigran-zerbrechlich sitzt sie da und reiht ihre Gedichte und die Prosa in ihre Erinnerungen und umgekehrt. Sie liest jedes Gedicht zweimal. (Das hab ich bei ihr abgeguckt) Das erste Mal gebrochen, suchend als müsste sie sich erinnern, unterbricht auch schon mal um etwas zu erklären (die Bedeutung der Blechdose in Mittelamerika, les ich zu schnell?) und dann das zweite Mal mit genau der richtigen Betonung und das altersbrüchige in der Stimme verschwindet fast ganz. Sie schafft es lässig die Stadkirche (ein Kleinod übrigens) in ihr Wohnzimmer zu verwandeln, lädt ein an ihren Erinnerungen teilzuhaben, posiert ganz bewusst als Zeitzeugin, verbalisiert das sogar mehrmalig. Fast lässig berichtet sie von dem Exil einer Jüdin, die vom Rabbiner ermahnt werden musste auch einmal eine Synagoge zu besichtigen. Diese paar Worte verleihen der deutschen Dummheit damals mehr Schärfe, als es die aufgeregteste Flamepredigt könnte und doch spricht sie davon, wie sie 1954 endlich wieder heim kam. Über ihre Lyrik will ich nichts sagen, ich will keine Fische in den Neckar tragen (sie wohnt ja seit 61 wieder in Heidelberg) ich empfehle sie zu lesen. Sie ist tatsächlich inzwischen klassisch. Und das weiß sie auch, trägt es aber nicht wie eine Fahne vor sich her, erzählt lieber von der Bedeutung ihres Mannes als Kulturhistoriker, nur manchmal flicht sie fast schalkhaft sowas ein: „Also diesen Titel habe ich mit Hesse diskutiert und der stimmte zu“, oder „Böll sagte mir, dass dort jetzt eine Mülltonne stünde“. Also der Büchner- oder Nobelpreis hätte ihr auch gut gestanden. Ob jemand von der deutschen Sprachakademie da war? Es war eine besonderer Abend, unaufgeregt grandios.

Off topic: Erstaunlicher Weise trug keiner der anwesenden Herren eine Krawatte, wirklich keiner und da waren bestimmt 150 Leute da. Erstaunlich für eine lyrische Lesung. Vielleicht sollte ich doch nach Darmstadt ziehen. Aber das hessische Gebabbl dort, das hessische….

Update:
Abel darf nicht sterben (Darmstädter Echo)