Rita

Peter sprang. Es tat nicht weh. Der Schatten war wirklich nicht lang. Nicht viel länger als er selbst an diesem Morgen. Er sprang und war drüben. Auf der anderen Seite. Er war über seinen eigenen Schatten gesprungen. Drüben an der Mauer stand Rita und kaute auf einem Grashalm. Sie hatte wieder Hesse gelesen, wusste er dann, seinen Narziss. Auf der anderen Seite des Schattens war die Welt nicht viel anders. Langsam schlenderte er auf sie zu. Was hatte er sich nicht alles vorgenommen für die Welt drüben, jenseits des Schattens. Aber nichts davon tat er. Er stand da und blickte Rita an. Ging zu ihr hin und nahm ihr den Grashalm aus dem Mund, steckte ihn in seinen. Ihre Augen leuchteten auf, maßen ihn neu, lasen die Reste des Schattens weg. „Hi“, sagte er. „Hi“, antwortete sie. „So ist das also“, sinnierte er mehr zu sich selbst, als zu dem schönen Mädchen an seiner Seite, mit dem er schlafen wollte, seit ja -, seit er daran überhaupt nur denken konnte. Er las in ihren Augen die Geschichte vom Glück im Bett unter den Vorhängen aus Tüll, im Auto auf dem Rücksitz, die Wonnen aus Brüsten, Lippen und Backen. Er sah Kinder und Schwiegermütter, Onkel und Tanten, Bankkonten und Sofas. Näher und näher rückte er an Rita heran, roch ihren heißen Atem, der noch nach dem Strohhalm schmeckte, er dachte kurz daran, dass es wohl Gerste war und begann zu singen. Jenseits der Schatten war er Tenor und Dirigent, Drummer und Gittarist, Keyboarder und Leadsänger, auch wenn das Feuer in Ritas Augen erlosch. Die Sofas qualmten in den Grillfeuern der Onkel, die Tanten lachten schrill zu den Hasstiraden der Schwiegermütter. Peter sprang zurück. Aber die Schatten waren verschwunden. Er sprang in die Leere seines einsamen Bettes, sang sein Lied, immer lauter, heftiger, stampfte mit den Füßen, warf seinen Kopf in den Nacken, die Hände an seinem Glied und Rita schrumpfte. Zu dieser schattenlosen Gestalt, die er kannte. Ruhe überkam ihn. Langsam schlenderte er erneut auf Rita zu, nahm sie am Arm und leitete sie in den Porsche von Christoph, der nach Schwiegermutter, Sauna im Haus und Swimmingpool neben der Garage duftete. Er rupfte direkt neben Christophs Schatten einen Grashalm, nahm seinen Hesse und wanderte zu Fuß die so oft befahrene Straße hinab, lachte den Mädchen zu, die auf dem Weg zum See kaum ihre Brüste verbargen, die im Takt der Schlaglöcher über den Fahrrädern wippten. Rote Lippen und kleine Zehen waren jenseits der Schatten und das Licht dieser Frau, die auf ihn wartete, dort in den Tiefen seiner Geschichte, was wusste schon Hesse, was Rita, was Mama von ihm. Und da war er wieder sein Schatten. Leicht sprang er hin, her, hinüber und zurück. „Was sind schon Schatten“, lachte er in Ritas Gesicht, küsste sie leicht und ging wieder. Er war Peter, der Schattenspringer. Mochte sie mitkommen oder auch nicht, da ging es lang. Er gab ihr Grashalm und Narziss und schwang sich durch die Luft davon.

(Wiedervorlage aus 2003)