Coming out

Am Anfang war ein Kiste.

Abgedreht würde ich es nennen, glatt und unbedenklich, wenn ich Auskunft geben müsste, mich jemals outen sollte. Es hätte durchaus etwas morbid-alltägliches, solch ein Outing. Alle Welt outet sich: Die Schwulen, die Lesben, ja sogar die Asexuellen. Karl erzählte mir, in seiner Gay-Kneipe gäbe es jetzt bereits Hetero-Outings. Nun ja, wenn es jemand interessiert: Ich bin heterosexuell und habe homosexuelle, sorry, schwule Bekannte. Zu meinem Leidwesen kenne ich allerdings keine lesbischen Damen persönlich. Ich weiß, dass dieses Abschweifen mein Coming-Out weiterhin verhindern wird, das Abtauchen ins funktional Sexuelle, die sexuelle Präferenz als alleiniges Kriterium einer Partnerwahl näher beleuchtend. Ich muss früher beginnen weiter zurückgehen. Nein, DAS geht Euch nichts an, nein. Nur so weit. Ja.
Am Anfang war ein Kiste alter Legosteine,
von meinen Kindern, Enkeln, Urenkeln oder gar mir selbst, wer weiß. Eine Kiste voller Legosteine, vielleicht auch gebeamt. Könnte doch sein, keiner weiß, wie etwas materialisiert, aber doch weiß jede Frau, dass selbst Manna materialisierte. Ein schlechter Witz, bemüht blasphemisch. Manna, nur um abzulenken. Was ist dabei, wenn eine Kiste Legosteine urplötzlich wieder in den Fokus rückt, nein wir werden jetzt nicht über Zeitschriften reden.
Legosteine.
Damit begann alles. Legosteine. Ein riesige Kiste, voll davon. Mit allem, Fenstern, Platten, Dachziegeln, Zweier, Dreier, Vierer, Achter, Ecken in rot und blau. Alles in Massen. Alles war im Überfluss vorhanden. Wie im Zwang begann ich zu bauen, tollpatschig zunächst, Kinderkram. Aber die Legopubertät rüttelte mich wie die Schwellenkrankeit auf Thendra. Hiergeblieben, nicht den Fluss unterbrechen, weiter, weiter, die Richtung stimmt. Ich begann Pustel-los zu bauen. Mit Stil, Bauhaus, und Postmoderne. Dann waren sie da, einfach da. Wolkenkratzer. Ja DIE Wolkenkratzer. Ich musste sie bauen, in rot und blau. Nachbauen. Die Doppeltürme.
Ich nahm Urlaub, baute, verwarf, lachte und ging Essen. Es ist seltsam wie gut selbst Pizza schmecken kann, wenn man baut. Es wurde mir fast zum Verhängnis. Ein halbes Jahr lang ging ich nicht zum Frisör, wer sagt da was von Glatze, hä? Wer? Ein halbes Jahr lang Kopfhautvernachlässigung, fönlos-fettig. Ich baute, zerstörte und baute wieder: Bis, ja bis, sie standen. Die Zwillingskratzer. Ganz in Lego, zerstörbar und doch immer wieder aufbaubar. Ich baute sie jetzt täglich, nach der Arbeit, ab und wieder auf. Immer wieder. Jeden Tag. Dauerte nur noch eine halbe Stunde, maximal. Nicht einmal Sonntags pauste ich. Zerstören und wieder aufbauen. Routine. Reine Routine. Professionalität. Ich war glücklich, begann sogar wieder das andere Geschlecht wahr zu nehmen, Augenblitze zu bemerken, sekundäre Geschlechtsmerkmale als solche zu erkennen.
Jeden Tag entstanden sie dennoch aufs Neue, erlebten die zerstörerische Metamorphose erneut. Blau und Rot.
Im letzten Sommer, als ich beinahe wieder Hand an mich legte, angesichts entblößter Rundungen im Hitzefrei, kam dieser Sand, wie ihn manchmal die Sahara sendet, mit den Wolken schickt, uns die Weite zu lehren, das Gefühl von Reibung auf der Zunge, das Knirschen in den Sandalen. Meine Fenster standen weit offen, lechzten nach Regen. Ich hatte sie vernachlässigt. ICH meine Fenster, die mir einst die Welt bedeuteten. Licht und Luft. Abschottung und Durchlass in einem. Meine Fenster standen Sperrangel weit auf und offen, ließen diesen Staub in die Räume. Er legte sich über Alles. Alles und Jeden. Klein und groß. Rot. Nach seinem Öl suchend. Auch über die Türme, die gerade zu Hälfte demontiert waren. Ekelhaft roter Staub auf dem Lego. In Handschuhen trug ich meine Türme, meine, meine, meine, in die Badewanne und begann sie zu duschen, legte die restliche Steine dazu und wusch. Ich denke es waren 3 Stunden Dauerdusche, bis ich erwachte und an die Wasserrechnung dachte. Ich stöpselte die Wanne, verwandelte sie zum Binnenmeer und wässerte die Türme, diese Türme, meine Türme, die Zwillingstürme, die Wolkenkratzer. Nur die Spitzen ragten aus dem Wasser, das ich dunkelrot färbte mit Tomatenpulver. Die Spitzen ganz in Blau. Wie zwei Inseln im roten Meer ragen sie aus der Wanne, umschwommen von den losen blauen Steinen, einsame Legos im Meer aus Tomatenwasser. Wie zwei winzig-blaue Brustspitzen einer versunkenen Frau, reckten sie sich meinen Fingern entgegen. Aber ich rührte sie nicht mehr an. Eine seltsam-schüchterne Zurückhaltung hindert mich, ein Hauch von morbider Heiligkeit liegt heute noch über diesem ungewollten Kunstwerk meiner Hände, der Luft, des Wassers und Bruder Wind.
Ich wasche mich jetzt täglich wie einst Oma am Waschbecken, sogar die Haare und starre auf meine künstlichen Inselchen. Das Wasser riecht schon nach H2So4, die ersten Algen wabern über die Legorose und die Spitzen zittern, wenn die Müllautos ihr ewig Lied in den Wohnblogg zittern. Inzwischen genüge ich wieder vollstens heterosexuellen Anforderungen, aber ich zittere vor meinem Coming-Out. Bisher waren wir nur bei Ihr. Aber es gibt Hoffnung:

Sie besitzt eine Kiste.